Ausführliche Biographie (Stefan Ott) - Kurzfassung unten!

Der Auszug ist entnommen aus den Aufzeichnungen seines Schülers Stefan Ott, unseres Heimatbuch-Autors, der durch den Tod Brechenmachers beim Etymologischen Wörterbuches die Korrekturdurchsicht übernahm, und das Werk zum Druck gab.

Josef Karlmann Brechenmacher – der Namensgeber unserer Schule

»Josef Karlmann Brechenmacher war eine eigenwüchsige Begabung, ausgezeichnet durch ein ursprüngliches Verhältnis zum Wort. Als Sprachforscher und Sprachlehrer verkörperte er den echten Typus des Philologen, der von den Erscheinungen des Sprachlebens angezogen, diesen nachgeht und zu durchleuchten und zu erklären versucht  Völlig selbstständig, ohne Führung und Anleitung, erwarb er sich das Rüstzeug zur wissenschaftlichen Arbeitsweise und stieß von das auf Grund kritischer Beschäftigung mit seinem Quellenmaterial zur wissenschaftlichen Aussage vor.

Schon der Schüler Brechenmacher war von einem wahrhaft unersättlichen Lesehunger besessen – zu seiner Zeit waren allerdings noch, wie er gern erzählte, Goethe, Heine und manche andere ›an die Kette gebunden‹, und er musste sie heimlich unter der Bank lesen. Als junger Lehrer setzte er auf seiner Landschule die Studien mit ungewöhnlichem Ernst und Eifer und allerdings auch einer außerordentlichen Arbeitskraft fort. So erzählte er gelegentlich, wie er als junger Lehrer, damals noch ›Provisor‹ genannt, jede Woche zwei- bis dreimal um 2 Uhr in der Frühe aufzustehen pflegte, sich an die Arbeit machte und dann um 7 oder 8 Uhr, je nach der Jahreszeit, den Unterricht aufnahm! In späteren Jahren war ein 16-stündiger Arbeitstag die Regel. Bevorzugtes Arbeitsgebiet war zunächst die deutsche Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts.

Die Schultätigkeit führte ihn bald einer neuen Arbeit zu, der quellenmäßigen Bearbeitung von Lesebuchtexten geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Inhaltes. Eine oft recht mühsame Arbeit, zumal die Quellen dünn und spärlich flossen. Aber er empfand es als eine wirkliche Entdeckung, wenn er nachweisen konnte, dass der Held der Ballade vom ›Braven Mann‹ ein Schwabe war, dass der wackere Schwabe aus der ›Schwäbischen Kunde‹ wirklich geschichtlich überliefert ist und jener ›Schwabenstreich‹ offenbar auch vollführt wurde.

Im Laufe der Jahre wandte er sich jedoch mehr und mehr der philologischen Forschung im engeren Sinn des Wortes zu, d.h. der Geschichte und dem Leben der Sprache selbst. Drei Arbeitsgebiete zeichnen sich in der Folgezeit klar ab: die Mundartforschung, die deutsche Sprachgeschichte und als engstes und eigenstes Spezialgebiet die Namen- und Sippenkunde.

Für die Mundartforschung brachte Brechenmacher die besten Voraussetzungen mit. Er war als Sohn eines Landlehrers im oberschwäbischen Dorf Oberdischingen aufgewachsen, und er ist diesem ursprünglichen Menschentum sein Leben lang verbunden geblieben. Der unverbildete bäuerliche Mensch war der Ausgangspunkt, die angeborene Mundart der Mutterboden seiner Untersuchungen. –

Auf Grund seiner ungemeinen Belesenheit war er auch jahrelang geschätzter Mitarbeiter des ›Schwäbischen Wörterbuchs‹. Als reifste Frucht seines Schaffens auf diesem Gebiet legte er die ›Schwäbische Sprachkunde‹ vor. Was er hier der Schule gab an Hinweisen und Beobachtungen auf dem Gebiet des mundartlichen Sprachlebens, wie er alten Ausdrücken wie z.B. ›gotzig‹ und ›knitz‹ liebevoll nachging, das hat in viele Schulstuben hinein fruchtbar und anregend gewirkt. Auf diese Weise hat er dazu beigetragen, den sprachkundlichen Unterricht aus dem dürren Grammatikunterricht herauszuführen, zur Mundart als der eigentlichen Muttersprache des Kindes hinzuführen und an sie anknüpfend, auf ihr aufbauend zur hochdeutschen Schriftsprache weiterzuführen und das Kind in ihr heimisch zu machen.«

Was seine Arbeiten auf dem Gebiet der deutschen Sprachgeschichte anbetrifft, darf ich mich beschränken, auf die ›Deutsche Sprachkunde‹ und auf den Band ›Deutsche Lautgeschichten‹ hinzuweisen, in denen er seine Erkenntnisse und Betrachtungsweise bereits ›schulfertig‹ vorgelegt hat.

Das wissenschaftliche Hauptverdienst von Josef Karlmann Brechenmacher liegt indessen auf dem Gebiet der Namenskunde, vor allem der Familiennamen. In jahrzehntelanger Sammel- und Forschertätigkeit hat er das Auftreten, die lautlichen Abwandlungen und die Ausbreitung der einzelnen Namen im gesamten deutschen Sprachraum unter Heranziehung aller nur erreichbaren Quellen über die Jahrhunderte hinweg verfolgt und dabei reiche Ergebnisse zutage gefördert. Sein ›Deutsches Namensbuch‹, seine ›Deutschen Sippennamen‹, vor allem aber sein ›Etymologisches Wörterbuch der deutschen Familiennamen‹ sichern ihm einen Ehrenplatz in diesem Bereich der Sprachwissenschaft.

Zu diesem letzten Werk noch der Hinweis. Es will ein ›etymologisches‹ Wörterbuch sein, das heißt eines, das sich um die Herleitung der einzelnen Namen, um die Aufdeckung ihrer Wurzeln bemüht, deren Verzweigungen und Verästelungen an Hand eines breiten Untersuchungsmaterials nachgeht, diese quellenmäßig belegt und so zu jedem Namen eine kleine Namensgeschichte gibt, wie sie bisher höchstens für einzelne Namen geleistet wurde.“ Soweit die Worte von Stefan Ott.

Ein Beispiel aus dem etymologischen Wörterbuch: Und da nehmen wir gleich den Namen Brechenmacher = »Hersteller der Hanf- und Flachsbreche, einer auf der Scheide des 14./15. Jh. im oberen Deutschland gemachten Erfindung, durch die das Textilgewerbe einen entscheidenden Anstoß erhielt. Bis ins 19. Jahrhundert hinein fehlt die Breche im ganzen Gebiet des Flachs- und Hanfanbaus auf keinem Brautwagen… Der Werkzeugname Breche ist zum ersten Mal gebucht in dem 1482 zu Nürnberg erschienenen Vocabularius: Breche = do man den flachs pricht. – Das Appelativum Brechenmacher ist in den Wörterbüchern liederlich behandelt, obwohl das Gewerbe des Brechenmachers noch im 19. Jahrhundert im württembergischen Gewerbesteuerkataster gebucht ist. 1830 ist der Brechenmacher dort freilich der niedrigst besteuerte Holzhandwerker; das Gewerbe war im Absterben und wurde meist nur noch im Herumziehen geübt«.

Als Familiennamen strahlen die Brechenmacher zunächst von dem Städtchen Monheim (zwischen Donauwörth und Treuchtlingen gelegen) aus, sind etwas später in Nördlingen sehr häufig und kommen über Augsburg nach Bayerisch Schwaben und im 18. Jahrhundert nach Oberschwaben.

Josef Karlmann Brechenmacher war Zeit seines Lebens mit Oberdischingen verbunden. Wenn sein Weg hier vorbeiführte, nahm er dies immer zum Anlass seinen Geburtsort zu besuchen und mit Schulkameraden zu sprechen. Für ihn war es selbstverständlich, daß er als 81-Jähriger im Jahre 1958 zur Schulhauseinweihung nach Oberdischingen kam.

Mit diesem nur bruchstückhaften Abriss auf das Schaffen – auf der Stele vor dem Schuleingang finden sich noch tabellenartig die einzelnen Lebensabschnitte – möchten wir die Vorstellung unseres Namensgebers Josef Karlmann Brechenmacher abschließen.

 

Brechenmacher war Zeit seines Lebens mit Oberdischingen verbunden. Dies dokumentiert auch die Tischrede anlässlich seines 80. Geburtstages am 21. 2. 1957 im »Hotel Kleber« in Saulgau.

»Ich werde eben darauf aufmerksam gemacht, dass, nachdem so viel Liebes, Gutes und Gescheites gesagt worden ist, es mir wohl anstünde, wenn ich selbst auch das Wort für ein paar Augenblicke ergriffe. Da wüßte ich nun … nichts Passenderes als eine kleine Anekdote aus meiner frühen Jugend, aus der vielleicht die schicksalhafte Verbundenheit des kleinen Oberdischingers mit der Kreisstadt Saulgau erhellt. In den ersten Schuljahren hatte ich nämlich eine Lehrerin, die aus Saulgau gebürtig war… Sie hatte mich in die Kunst des Schreibens eingeführt, weniger in die des Lesens…

Es muss wohl im Jahre 1886 gewesen sein, also in meinem neunten Lebensjahr, als sich der Knoten schürzte, den ich jetzt aus behaglicher Erinnerung heraus, wieder aufknüpfe. Das Fräulein hatte nämlich auf Weihnachten unter vielem andern ein Poesiealbum erhalten, ein für meinen Begriff unerhört schönes, in blauen Samt gebundenes Buch, das zu diesem äußern Glanz noch eine mir fast überirdisch erscheinende Besonderheit aufwies: unter die weißen Blätter waren zartgrüne, rosarote, himmelblaue gemischt, so dass mein Erstaunen ins Ungemessene wuchs. Und in dieses Wunderwerk der Buchtechnik sollte ich nun, als ich die Klasse des Fräuleins verließ, mich auf der letzten Seite mit einem Vers von bleibender Bedeutung verewigen.

Ich nahm diesen Auftrag mit gemischten Gefühlen entgegen; denn trotz meiner erst neun Jahre hatte ich auf diesem Gebiet schon eine unerfreuliche Erfahrung hinter mir. Meine Schwester hatte nämlich auf die verflossenen Weihnachten ebenfalls ein kleines Poesiealbum erhalten, und hier hatte ich mich nach Vater und Mutter als der Erstgeborene des Hauses auf der dritten Seite eintragen dürfen.

Mein Vers lautete: Lebe glücklich, lebe froh, wie die Maus im Haberstroh’.

Meine kleine Schwester war davon sehr erbaut; aber mein Vater hatte, wie ich sehr bald erfuhr, sich gegen die Mutter geäußert, dass sein Ältester mit diesem Sprüchlein einen beklagenswerten Tiefstand seiner Weltanschauung bekundet habe.

Das focht mich nun freilich nicht weiter an, da ich nicht wusste, wa Weltanschauung sei und wie diese aussehe. Aber als ich nun in dem blauen Samtband mich geistig verausgaben sollte, so nahm ich darauf Bedacht, etwas auszumitteln, was weltanschaulich hieb- und stichfest war. Ich schloss aus der Logik eines Unterklässlers, dass ich mir etwas aneignen müsse, das dann, falls es missfiele, wenigstens nicht mir aufgemutzt werden konnte. Dazu schien mir die schöngebundenen Klassiker meines Vaters [Lehrer in Oberdischingen] pässlich, von denen ich annahm, dass sie weltanschaulich hinlänglich infiziert seien. Bei Schiller fand ich denn auch gleich einen Spruch, der schon durch einen feinen Bleistiftstrich gekennzeichnet war. Den nahm ich:

Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall, der Mensch kann sie üben im Leben

Und sollte er auch straucheln überall, er kann nach der göttlichen streben.

Ich zeigte ihn meiner Mutter, und die meinte, dass der Spruch auf jeden Fall besser sei als meine Habermauspoesie.

Nun wäre alles gut gewesen, wenn mir nicht mein Unstern noch ein Spruchwörterbuch in die Hände gespielt hätte. Hier stieß ich auf einen Vers, der überschrieben war »Natürlich«, und der schien mir geradezu prädestiniert, in des Fräuleins Album zu kommen.«

Unser Fräulein war mit 19 Jahren zu uns gekommen, und aus ihrer klösterlichen Erziehung hatte sie als ein Mittel, sich Menschen vom Leibe zu halten, so eine Art Philosophie des Nil admirari mitbekommen… Wenn ihr also jemand sagte, dass der kamdschadalische Dialekt 26 Kasus habe, so sagte sie ohne peinigendes Nachdenken: »Aber natürlich«… Und wenn sie mit meinem Vater honoris causa auf eine Bauernhochzeit ging und von einem der reichen, hochgeschäfteten Bauernsöhne eine Aufforderung zum Tanze erhielt, so antwortete sie mit einem schnippischen »Aber natürlich! Das würde Ihnen so passen«. Davon hatte das schlagfertige Fräulein schließlich den Spitznamen »Fräulein Natürlich«.

Das alles schoß mir durch den Kopf, als ich in dem Spruchwörterbuch auf das Stichwort »Natürlich« gestoßen war, und ich malte mir aus, welche Freude Fräulein Anna empfinden müsste, wenn so ein kleiner Kerl mit einem wirklich zeithaltigen Spruch den Nagel auf den Kopf traf. Nun hatte ich also nur noch wegen der Unterschrift die Mutter zu befragen. Bei meiner Schwester hatte ich gezeichnet: Dein Dich liebender Bruder. Nun wusste ich damals schon, zwar nicht aus der Theorie, wohl aber aus der Praxis, dass man in gewissen Fällen den pluralis majestaticus anwendet, und ich schlug vor: Ihr Sie liebender… Aber die Mutter lächelte merkwürdig und meinte, dazu sei ich noch ungefähr 20 Jahre zu jung. Ich sollte nur schreiben: Ihr gehorsamer Schüler. So geschah es denn auch.

Man setzte mich in einen leeren Schulsaal, nicht ohne mir größte Behutsamkeit im Umgang mit dem blauen Samt einzuschärfen. Und jetzt schrieb ich, ein paarmal als Probeschrift und dann als Reinschrift, meinen Vers: Natürlich. Natürlich – nur natürlich willst du sein? Nun wohl, natürlich ist das Schwein.

Indem ich den Vers nochmals überlas, wunderte ich mich, auf welche Einfälle Dichter kommen. Aber dazu waren sie wohl Dichter. Dann begab ich mich ins Wohnzimmer, wo das Fräulein schon anwesend war. Nicht ohne Stolz überreichte ich den Band, in dem sich Fräulein Anna sogleich begierig zurechtblätterte. Aber was musste ich sehen? Ihr Gesicht verdunkelte sich, und über der Nasenwurzel formierte sich ein ungewohntes Fältchen. In diesem Augenblick trat mein Vater ein. Sie überreichte ihm mit der Miene einer beleidigten Königin meine Leistung. Ich sah, wie die Röte in ihm emporstieg, und eine verdächtige Zuckung in seinem rechten Arme riet mir, Deckung zu nehmen. Aber das Fräulein, wahrscheinlich weniger um mich besorgt als um ihr Album, fiel ihm in den Arm. Das Essen wurde schweigend eingenommen, und die nächsten Tage herrschte dicke Luft. Im Schulhof und im Schulgang ging ich dem Fräulein behutsam aus dem Wege; aber eines Tages stellte sie mich. »Josef«, sagte sie und hob den zierlichen Zeigefinger, »ich weiß, du bist nicht schlecht und auch nicht boshaft, aber grausam dumm!« Damit klärten sich wieder ihre Augen, und ich war unmaßen froh, denn der status quo war damit wieder hergestellt.

Etwa zwanzig Jahre später besaß ich die großen Spruchwörterbücher unseres Schrifttums selber und hatte oft Gelegenheit, mich ihrer zu bedienen. Und indem, ich da eines Tages wieder auf das Stichwort »Natürlich« stieß, sah ich zu meinem Vergnügen, wer denn eigentlich den boshaften Vers verbrochen hatte. Es stand nämlich darunter: Johann Gottlieb Fichte… Und es stand auch dabei, was mich 1886 jedenfalls noch ganz kalt gelassen hatte, dass der Dichter Friedrich Sallet den Zweizeiler in einem Denktext benutzt habe. Jetzt konnte ich mich freilich nicht mehr rechtfertigen; denn das Fräulein war inzwischen von der Schwindsucht weggerafft worden. – Ich wollte aber sie säße heute hier… Und ich wüsste gar zu gerne, ob sie, wenn sie die vielen Lobreden auf ihren einstigen Schüler vernommen hätte, wohl da oder dort geäußert hätte: Aber natürlich.«

 

Im Nachlass Brechenmachers hat sich noch ein Tagebuchfragment mit 10 Seiten erhalten. Ein Eintrag vom 30. Juni 1959 lautet: »Es mir auffallend, dass jetzt von so vielen Seiten nach dem ›Jungen Tobias‹ (meiner Selbstbiographie) gefragt wird. Ich habe im Laufe des harten Winters von dem Werke, von dem ich nur Proben habe drucken lassen, ein Stück nach dem anderen verbrannt. Nur ein einziges Blatt, das ich verschenkt hatte, existiert noch. Der Titel, den ich gewählt hatte – Der junge Tobias – sagt, was ich wollte. Es war mir immer verwunderlich, dass meine Erzählungen aus der frühen Jugendzeit, aus den Lernjahren und aus den vier oder fünf ersten Lehrerjahren nie so recht geglaubt wurden: das Erlebte wich allzusehr von dem Troddelgang aller meiner Kameraden ab, und namentlich die wütende Energie, mit der ich mir die Möglichkeiten zum Arbeiten zurecht zimmerte, schienen unglaublich. Ich habe das Erinnerungwerk übrigens nur bis zum Frühling 1903 fortgeführt – ich wurde ja eigentlich nur 26; denn im beginnenden 27. heiratete ich.« Damit ist geklärt, dass die Geschichte der Kindheit Josef Karlmanns nie erscheinen konnte.

»Mein Vater in Oberdischingen.«

Brechenmacher verehrte seinen Vater, der von 1874 bis 1896 als Lehrer in Oberdischingen wirkte. In einem Tagebucheintrag vom 5. August 1959 schreibt Josef Karlmann u.a.: »Die Erinnerung an Leben und Sterben meines Vaters beherrscht mich, als ich im Herbst 1958 der Einweihung des neuen Schulhauses in Oberdischingen anwohnte. In dem alten Schulhaus [an der Bachstraße, siehe Abbildung] hat mein Vater 22 Jahre regiert und gearbeitet; hier habe ich 1883 bis zum Frühjahr 1891 das Lernen gelernt, freilich auf etwas sonderbare Weise; denn da ich ein Jahr früher in die Schule genommen worden war, vielleicht auch, weil mein Vater sich schließlich sagte, dass er mich nicht mehr genugsam füttern könne, so wurde ich im letzten Jahr dem ›Selbststudium‹ überlassen. Es wurde mir einfach gesagt: Wenn Du beim Aspirantenexamen (Anfang 1891) durchfällst, so liegt die Schuld an Dir, weil Du nicht genugsam gearbeitet hast. Das leuchtete mir ein, nur leider wusste weder mein Vater noch wusste ich, was denn zu arbeiten wäre. Denn ich war unter den mehr als hundert Prüflingen der einzige, der keine ›Aspirantenschule‹ durchgemacht hatte, sondern der mit der Hausmannskost des Vaters ins Seminar hineinwachsen sollte. Ich trieb also planlose und unkontrollierte Aneignung des Wissens, schrieb namentlich fast täglich einen Aufsatz. So kam es dann, dass  ich dann beim Examen im Aufsatz die höchste Note erreichte, die überhaupt zu erlangen war…

Weiter aus dem Tagebuch Brechenmachers: »Ich wollte nun aber von meinem Vater schreiben. Oberdischingen war der Frühling und Sommer seines Lebens. Als er (vielbeneidet) 1874 diese Stelle erhalten hatte, galt das durch den Malefizschenk bereits berühmte Oberdischingen weithin als ›Kleinparis‹. Im Schloss saß zwar nicht mehr der Schenk von Castell; aber der Rittergutsbesitzer v. Kaulla brachte Leben und Geld in das kleine Dorf. Die Schlossbrauerei [abgebrochen 1922] lieferte das beste Bier des Oberlands; die ausgedehnten Hopfengärten beleben die Landschaft und brachten im Herbst Geld; der Schlossgarten hatte seinen eigenen Gärtner, von dem mancherlei Anregung ausging. Aber Herr v. Kaulla war auch ein großer Musikfreund, und mein Vater als vorzüglicher Violinspieler wurde oft ins Schloss [ehem. Kavaliersbau, abgebrannt 1969, 1974 zum Altenheim St. Hildegard aufgebaut] geladen. Damals war das Leben noch nicht so eng wie später, und wenn Herr v. Kaulla bei geöffnetem Fenster eine Sonate von Mozart, Beethoven, Haydn usw. aus dem Lehrerhaus herüberschallen hörte (mein Vater besaß ein wohltönendes Pfeiffertafelklavier), so wurde er oft an den Flügel im Musiksaal des Schlosses geholt, und der Schlossherr spielte dann um die Wette mit dem jungen Lehrer. Auch manches gute Glas Wein sei damals getrunken worden, und es war bekannt, dass der Schlosskeller [wohl das kleine ›Teehaus‹, das heute noch im Park, äußerlich frisch renoviert steht] gut besetzt sei. –

In den 1880-ziger Jahren empfing Herr v. Kaulla öfters Besuch des (damals) berühmten Gelehrten (Ägyptologe) und Romanschriftstellers Georg Evers, und es mag 1886 oder 1887 gewesen sein, dass ich einmal von diesem angesprochen wurde. Ich saß an einem schönen Sommernachmittag auf dem Bänkchen vor dem Schulhaus und las, als ein vornehm gekleideter Herr aus dem Schloss heraustrat und auf mich zuschritt. Ich erhob mich und er fragte mich, was ich da lese. Ich reichte ihm das Buch; es war der Robinson in der Ausgabe von Campe. Er lächelte, blätterte ein bisschen drin herum und sagte, indem er mir das Buch zurückgab: Ja, das hab ich vor vielen Jahren auch mal gelesen. Dann fügte er ein Werturteil hinzu, das ich damals noch nicht verstand. Mein Vater sagte mir nachher, ich sollte mir wohl merken, dass ein sehr berühmter Mann mit mir gesprochen hat. Es ist mir aber bloß noch sein elegantes Spazierstöckchen mit dem silbernen Griff im Gedächtnis.«

Quelle: Werner Kreitmeier, Museumsverein Oberdischingen

 

Josef Karlmann Brechenmacher 1877–1960

Sprachforscher und Pädagoge

Professor und Ehrensenator der Universität Tübingen

Ehrenbürger der Stadt Saulgau

 

21.2.1877            geboren in Oberdischingen

1883–1891          Besuch der Oberdischinger Volksschule bei

seinem Vater, dem Lehrer Rupert Brechenmacher (1850–1908)

1891–1895          Ausbildung zum Volksschullehrer am Lehrerseminar Gmünd

1895–1899          Lehrgehilfe und Lehrer-Stellvertreter in Wehingen, Munderkingen und Mengen

1900      »Definitiver« Lehrer in Hundersingen, Oberamt Ehingen

1903      Heirat mit Karoline Theresia, geb. Strub, 4 Kinder

1907      Hauptlehrer in Stuttgart

1912      Seminaroberlehrer, ab 1920 »Wissenschaftlicher Hauptlehrer«

(Professor) für das Fach Deutsch am Lehrerseminar Rottweil

1928      Oberstudiendirektor am Lehrerseminar Saulgau

1934      Zwangspensionierung wegen seiner kritischen Haltung gegenüber

den Nationalsozialisten – Umsiedlung nach Stuttgart –

privater Forschungsschwerpunkt »Etymologie der Familiennamen«

1944      bei Fliegerangriff auf Stuttgart Verlust der Wohnung und nahezu aller wissenschaftlicher Unterlagen und Sammlungen – Rückkehr nach Saulgau

1945      von der französischen Militärregierung zum Vorsitzenden der

Entnazifizierungskommission ernannt

1946      Oberstudiendirektor der Lehrer-Oberschule Saulgau

1950      anlässlich seiner Pensionierung vom Lehrerverein Württemberg-

Hohenzollern zum Ehrenvorsitzenden und »Praeceptor Suebiae« (Lehrer Schwabens) ernannt

8.6.1960               gestorben in Saulgau

 

Als Brechenmacher 1947 Ehrensenator der Universität Tübingen wird, gilt diese Ehrung laut Verleihungsurkunde »dem bedeutenden Sprachforscher und Sprachlehrer, dem hervorragenden Kenner der Mundartforschung, dem Meister der Namen- und Sippenkunde, dem großen Erzieher der Jugend, dem in der Heimat verwurzelten bescheidenen Bürger«. Zahlreiche Veröffentlichungen beherrschen sein Lebenswerk. Das 1957 veröffentlichte Etymologische Wörterbuch der deutschen Namen- und Sippenkunde mit der Herkunft und Bedeutung von Namen ist zu einem Grundlagenwerk geworden, das heute noch Bestand hat.

 

Sein Leitspruch »wir arbeiten nicht für heute und nicht für morgen; wir arbeiten, um eine Tradition zu begründen!«, der sein ganzes Leben und Arbeiten bestimmte, verdeutlicht seinen außergewöhnlichen Anspruch an sich selbst und seinen pädagogischen Auftrag. Er war nicht am materiellen Erfolg orientiert, sondern am verantwortungsvollen, nachhaltigen gesellschaftlichen Wirken.

Quelle: Werner Kreitmeier, Museumsverein Oberdischingen